Was macht Corona mit mir?

8.04.2020

Corona bewegte Zeiten. Falsch, eigentlich bewegt sich und bewegen sich viel weniger Menschen als sonst….Aus meiner persönlichen Sicht halten sich viele Deutsche an die Kontaktsperre. Kontakt zu Eltern, Freunden, Nachbarn habe ich total eingeschränkt. Mit der Schwiegermutter unterhalten wir uns als
Familie selten im Garten, unter Einhaltung eines respektablen Sicherheitsabstandes. Vor Corona hätten wir uns gemeinsam an einen Tisch gesetzt, ein Getränk angeboten und mehrere Stunden gequatscht über dies und das. Ja, das geht auch mit (m)einer Schwiegermutter!
Jetzt verhält es sich, als ob ein Beteiligter hochansteckend ist und keinesfalls berührt oder drückend begrüßt werden darf. Wir wissen nur nicht, ob und wer wirklich ansteckend ist…
Meine Schwägerin aus Lützellinden grüße ich auch nur distanziert. Während wir vor Corona häufig zusammen einen Wein getrunken haben, könnte man jetzt verhaltensbezogen meinen, wir hätten ein Verhältnis und wollen uns merkwürdig verdächtig aus dem Weg gehen. Brettspiele wie Mühle, Scrabble oder Kniffel werden in meiner Familie wiederbelebt, das gemeinsame Essen im Familienkreis wird zum einzigartigen „Kontakterlebnis.“

Foto: pixpoetry/unsplash

Meine Frau wird Mitte April 50. Die geplante Geburtstagsfeier fällt aus. Ich habe ihr schon vorgeschlagen, wir feiern mit einem Protokoll wie bei Staatsempfängen des Bundespräsidenten. Gefeiert wird im Garten. Jeder Gast, maximal 2 Personen analog der Corona-Kontaktregeln, erhält 5 Minuten um abstandswahrend mit Gesten gratulieren zu können. Der für Lützellinden wichtige Geburtstagskuchen wird stückweise in Alufolie zum Mitnehmen (Neudeutsch: to go) verpackt. Besuch erledigt – gefeiert?
Ich habe als Gruppenleiter meine Kollegen in 2 Teams einteilen müssen, um sich wöchentlich mit Home und Office abzuwechseln, damit im Falle einer Ansteckung/ Charantäne die Gruppe für Kunden handlungsfähig bleibt.
Homeoffice hat für mich viele Nachteile, wie z.B. fehlende Gespräche mit Kollegen, fehlende direkte Kundenkontakte, leben in einem Raum wie ein „stundenweise Gefangener“ und das bei ca. 8 Stunden Arbeitszeit…
Der Vorteil: Meine Fahrtzeit nach Frankfurt reduziert sich täglich von ca. 2,5 Stunden auf wenige Minuten. Mehr Freizeit, mehr Lebenszeit, u.a. auch Zeit, diesen Artikel zu schreiben…
Diese Zeit, im eigenen Garten bei Sonnenschein sitzend, bringt mich mangels außerfamiliärer Kontakte auch dazu, darüber nachzudenken, was mir gerade wirklich fehlt. Es sind vor allem die Kleinigkeiten, welche ich vermisse. Mit Kollegen sprechen, Gespräche im Garten „normal“ führen, Bekannte/Freunde im Gottesdienst oder auf der Straße treffen, Größere Ereignisse wie z.B. Geburtstagsfeien normal planen können, gestalten sich gedanklich skurril.
Auch mein Hobby „Eintracht Frankfurt“ im Stadion anzufeuern fehlt. Bundesliga fällt aus, Ablenkung fällt aus. Vorfreude auf das Pokalspiel gegen Bayern München fällt aus. Urlaubs(vor)freude fällt aus…. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch durch sein Handeln zeigt, was ihm wirklich wichtig ist. Da wir alle die gleiche Zeit haben, hängt unsere Einteilung selbiger von unseren Prioritäten ab. Wenn mir etwas wichtig ist, mache ich es auch dauerhaft, zeitweise begründete Unterbrechungen inbegriffen. Wenn ich aber etwas halbherzig durchführe, ist es mir dann nur halb so wichtig?!
Wenn Dir z.B. der Gottesdienst fehlt oder der geliebte Posaunenchor, dann solltest Du Dich nicht fragen ob, sondern warum er Dir fehlt. Was Vermisst Du konkret? Den Lobpreis, den Hauskreis, die Predigt oder die „Blasstunde.“- was genau fehlt Dir gemeindebezogen?
Ich sehe in der Coronazeit die einmalige Chance, sich bewusst zu machen, was fehlt. Wenn die Zeit der Kontaktsperre vorbei ist, werde ich/wirst Du die Dir fehlenden Dinge doch viel mehr genießen! Es wird ein bisschen wie bei einer überstandenen Krankheit sein. Man schätzt das „Normale“ wieder auf ganz neue Weise. Wie lange wird die Freude über zurückerlangte Normalität anhalten?
Die zweite große Chance dieser Zeit liegt darin, dass Du Dir Dinge, welche Du jetzt nicht vermisst, was auch immer es ist, merkst.
Ich habe vor Jahren einem Vorstandsmitglied der evangelischen Gemeinschaft vorgeschlagen, u.a. den Gottesdienst für 4 Wochen zu unterbrechen, das Haus der Evangelischen Gemeinschaft zu schließen, um eine Reaktion der Gemeindemitglieder zu erzeugen. Im Grunde fragt sich jeder Redner, Pastor, Vorstand „Was interessiert unsere Mitglieder, Zuhörer, Gläubigen?“ Jetzt ist diese Phase unfreiwillig gekommen…. Böse Zungen haben schon für eine zusätzliche Zeitrechnung, ergänzend zu vor Christi und nach Christi, plädiert: 2021 (Jahr 1 nach Corona, 2019 =Jahr 1 vor Corona). Der aktuelle Abiturjahrgang wurde schon als Coronajahrgang tituliert.
Ich plädiere dafür in der Zeit nach Corona, wann immer das sein wird, die Dinge in den Vordergrund zu stellen, welche wir gerne tun und jetzt vermissen. Dinge, die wir jetzt nicht vermissen, sollten wir konstruktiv verändern oder am Ende streichen, damit wir unsere gemeinsame Zeit sinnvoller nutzen.
Stellen wir uns mal vor, wir wären Gott und uns würde der globale, schnelllebige, ökonomisch geprägte Zeitgeist unseres Geschöpfes „Mensch“ missfallen. Wer von uns wäre auf die Idee gekommen, mit einem grippeähnlichen Virus (lautlos, riecht nicht, schmeckt nicht) die Welt derart zu „endschleunigen“ und zu verändern wie wir es derzeit erleben?“
Nutzt die Zeit und bleibt gesund!
Euer
Jörg Reklies